Konstruktion
Selbst PianistInnen bekommen selten die Gelegenheit, die Konstruktionsweise ihrer Instrumente näher zu erkunden. Das furnierte Gehäuse und der Deckel verleihen eine dekorative Note, verdecken aber das technische Innenleben. Deshalb lohnt sich ein unverstellter Blick von oben und unten auf einen Flügel. Helmholtz' Instrument sieht zwar einem heutigen Steinway-Flügel schon sehr ähnlich, doch sind einige bauliche Besonderheiten vorhanden, die später teils gar nicht mehr oder in veränderter Form auftreten. Sein Entstehungsjahr 1871 liegt zu Beginn der Phase mit der höchsten Patentdichte in der Unternehmensgeschichte. Die meisten der damaligen Erfindungen sind noch heute in jedem Flügel enthalten.[1]
Mit 2,6m Länge gehört das hier vorgestellte Instrument dem damals größten produzierten Modell an und kann mit seiner Klangfülle auch heute noch mit jedem Konzertflügel mithalten. Einzigartig ist, dass Theodore Steinway, der technische Leiter der Fabrik, hier nachträglich und von Hand eine neue Konstruktion einbaute, die aus Helmholtz' Akustikforschung hervorgegangen ist.
Die Aufsicht auf den Flügel enthält viele spannende technische Details, die im Folgenden erläutert werden:
Dieser Konzertflügel verfügt schon über den modernen Tonumfang von 88 Tasten, der 1871 noch recht ungewöhnlich war. Für Helmholtz wählte Steinway das damals größte und technisch aktuellste Modell. Spuren an der Klaviatur und Mechanik lassen erkennen, dass das Instrument viel gespielt wurde.
Auf der Platte befinden sich neben dem Firmenlogo auch die Daten der Anmeldung der drei enthaltenen Patentkonstruktionen: die Kreuzbesaitung, die Agraffen (bzw. deren Befestigungsweise in der Platte) und der Doppeleisenrahmen-Resonator – nicht aber die Duplex-Skala, die hier erst später von Hand eingebaut wurde.
Die Basssaiten werden seit 1859 schräg über die benachbarten Saiten statt parallel zu ihnen geführt. Ziel dieser Änderung war es laut Patentschrift, größere Saitenlängen zu erzielen und den Steg näher in die Mitte des Resonanzbodens zu rücken, wo er freier schwingen kann als am Rand.
Diese ungewöhnliche Konstruktion verwendete Steinway nur wenige Jahre. Durch das Verstellen von Schrauben kann die Spannung des Resonanzbodens genau reguliert werden, um so ein optimales Schwingungsverhalten herzustellen.
Unter Agraffen versteht man im Klavierbau Führungsschrauben mit Löchern für die Saiten, durch die sie in ihrer Lage fixiert werden. Dadurch können sie nicht durch den Hammerschlag nach oben ausgelenkt werden. Die Agraffe begrenzt zugleich die klingende Länge einer Saite. Agraffen sind seit dem frühen 19. Jahrhundert in Gebrauch.
Das Patent bezieht sich auf die Verbindung der Agraffe mit der Platte durch einen Vorsprung ("Flansch") auf der Unterseite der Platte.
Die Duplex-Skala ist diejenige Konstruktion von Steinway, die besonders auf Helmholtz‘ Akustikforschungen beruht. Allerdings erfolgte die Patentierung erst 1872 und somit nach dem Bau des Helmholtz-Flügels. Im Menüpunkt "Objektbiographie" wird ausgeführt, warum sie dennoch in diesem Flügel zu finden ist.
Auch die Unterseite des Flügels weist Besonderheiten auf. Hier sind die Raste, der Resonanzboden und die Pedalanlage zu erkennen.
Die drei Beine des Flügels können für den Transport leicht abgenommen werden. Auch zum Fotografieren der beiden vorliegenden Gesamtaufnahmen wurden sie entfernt. Dabei kommt der Stempel des Berliner Steueramts zum Vorschein, der unter Objektbiographie beschrieben ist.
Der Flügel verfügt über zwei Pedale. Während das rechte wie üblich eine Aufhebung aller Dämpfer bewirkt, hat das linke eine besondere Funktion, die möglicherweise für diesen Flügel einzigartig ist: Bei Druck dieses Pedals werden nur die Dämpfer der tiefsten 17 Töne angehoben.
Etwas ähnliches findet man bei manchen früheren Klavieren. Dort konnte man die Dämpfung der unteren und oberen Hälfte des Tonumfangs getrennt deaktivieren, um etwa einen klar gedämpften Staccato-Bass mit einer ungedämpften, fließenden Melodie zu verbinden. Die Idee hier ist aber eine andere und glücklicherweise bietet Steinway in dem Brief an Helmholtz selbst eine Erklärung: Die durch den Pedaldruck nun ungedämpften Basssaiten sollen von anderen angeschlagenen Töne dazu anregt werden, mitzuschwingen und Obertöne abzugeben. Das "Mittönen", also die Resonanz, ist ein beliebtes Untersuchungsfeld der Akustikforschung dieser Zeit und auch Helmholtz thematisiert sie in den Tonempfindungen.[2]
Während also die reguläre geteilte Dämpfung hilfreich zur Gestaltung musikalischer Phrasen ist, dient diese Variante eher der Bereicherung der Klangfarbe. Die erklärte Absicht, "das Mitsingen der harmonischen Obertöne anderer als der angeschlagenen Saiten jedes einzelnen Tones sehr hübsch zur Empfindung [zu] bringen ", erinnert an die Duplex-Skala und nimmt Elemente ihrer Funktionsweise vorweg. Es ist nicht bekannt, dass Steinway diese Vorrichtung bei anderen Klavieren nutzte und sie wurde auch nicht patentiert.
Bei einem Blick hinter die Klaviatur sieht man die Dämpfer. Durch Druck des rechten Pedals hebt eine Leiste alle Dämpfer gleichzeitig hoch. Die Besonderheit beim Helmholtz-Flügel ist, dass keine durchgängige Dämpferleiste vorliegt, sondern dass die ersten 17 Dämpfer im Bass auf einer eigenen, getrennten Leiste liegen. So können sie bei Betätigung des linken Pedals unabhängig von den anderen Dämpfern angehoben werden.
Frühe Klaviere hatten noch einen durchgängigen Unterboden. Ab den 1820ern wurde er allmählich reduziert, bis nur diejenigen Bereiche übrig blieben, an denen die Beine und Pedale befestigt sind. [3] In der Mitte steht der Blick auf den Resonanzboden mit seinen diagonal verlaufenden Rippen frei.
Im Bassbereich, wo die Saiten überkreuzt geführt werden, ist der Steg vom Hauptsteg getrennt. Die Schrauben auf der Unterseite des Resonanzbodens patentierte Theodore Steinway unter dem Namen "Acoustic Dowels". Sie reichen durch den Resonanzboden in den Steg hinein und dienen dazu, die Schwingungsübertragung zu unterstützen.
Einige Merkmale in der Konstruktionsweise des Helmholtz-Flügels stammen aus einer Übergangsphase im Flügelbau: Die Außenwand (der sogenannte "Rim") ist noch aus mehreren Teilen zusammengesetzt, wird aber wenige Jahre später mit einer Biegepresse aus einem Stück gebogen. Dadurch erhalten Flügel eine rundlichere Gesamtform. Die längs und quer verlaufenden, stützenden Holzbalken ("Rastenkeile") werden später strahlenförmig angeordnet. Dahinter steht das Ziel, alle Bauteile besser miteinander zu verbinden und eine möglichst effektive Schwingungsübertragung zu gewährleisten. Beide Maßnahmen sollen den Korpus außerdem leicht, aber widerstandsfähig gegen den hohen Saitenzug machen. [4]
[1] Für Details zur Entwicklung der Flügelmodelle und Patente siehe Kehl, Roy F.; Kirkland, David R.: The Official Guide to Steinway Pianos, Milwaukee 2011.
[2] Helmholtz: Tonempfindungen, S. 60-83.
[3] Pollens, Stewart: The Piano of the Future, in: Ziad Kreidy (Hg.): Clefs pour le piano | Keys to the Piano, Château-Gontier 2018 , S. 397-412, hier S. 405.
[4] In diesem Absatz wurden folgende von Theodore Steinway angemeldete Patente angesprochen:
- Acoustic Dowels, 1869
- strahlenförmige Rastenanordnung und einteiliger Rim, 1878
Zitierweise: Katharina Preller, „"one of the most beautiful applications of science to art"? Der Helmholtz-Flügel von Steinway & Sons“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.