Die Duplex-Skala
"This scale, which rests upon the scientific investigations of Helmholtz, is one of the most beautiful applications of science to art that our civilization has seen" (1)
Wenige Klavier-Konstruktionen werden in ihrer Wirkung und Funktionsweise so unterschiedlich beurteilt wie die Duplex-Skala. Von Anfang an lautete die Kritik entweder, sie sei ineffektiv, oder sogar klanglich unvorteilhaft. Zugleich wird ihr Erfolg allein schon dadurch bezeugt, dass sie bis heute von fast allen Klavierfirmen verwendet wird (2). Auch die Angabe, die Erfindung basiere auf Helmholtz' Forschungen, hat Bewunderung und Zweifel ausgelöst.
Die Saitenspannung von Flügeln war im Laufe des 19. Jahrhunderts stark angestiegen, um den Ansprüchen an Tonumfang und Lautstärke gerecht zu werden (3). Damit gingen grundsätzliche Änderungen der Bauweise einher (4). Ein Resultat der modernen Bauweise und der Erweiterung des Tonumfangs nach oben war die hohe Steifigkeit der Diskant-Saiten, die einen eher stumpfen Klang bewirkte. Die Duplex-Skala sollte für dieses Problem Abhilfe schaffen.
Bei den meisten Saiteninstrumenten erklingt eine Saite nicht in ihrer ganzen Länge, sondern nur der Abschnitt zwischen dem Steg und der Begrenzung nahe den Wirbeln (je nach Instrument z.B. Sattel, Agraffe oder Kapodaster genannt). Bei Flügeln war es üblich, die außerhalb dessen liegenden Saitenteile durch den Kontakt mit Filzstreifen zu dämpfen.
Der Hauptabschnitt der Saite schwingt selbst nicht nur in seiner gesamten Länge, sondern auch in seinen ganzzahligen Teilabschnitten (½, ⅓ , ¼ etc. der Länge). Dadurch entstehen vereinfacht gesagt zugleich der Grundton und die Obertöne, die in der Art ihrer Mischung die Klangfarbe bestimmen. Durch die schon angesprochene Steifigkeit und die Kürze der Diskantsaiten fallen deren Obertöne im Verhältnis zu schwach aus, weil das Schwingungsverhalten der Teillängen behindert wird.
Die Idee hinter der Duplex-Skala besteht nun darin, die zwei bisher ungenutzten Außenabschnitte der Saite mitschwingen zu lassen, um so den Klang zu bereichern. Besonders vorteilhaft schien es, wenn ein proportionales Längenverhältnis zwischen dem Haupt- und den beiden Nebenabschnitten vorliegt, denn dann stimmen die zusätzlich erzeugten Töne mit den bisher zu schwachen Obertönen der Hauptsaite überein und verstärken diese. Außerdem verlängert die Duplex-Skala die Tondauer. Beide Effekte kann man deutlich im Spektrogramm sehen, wenn man die beiden Duplex-Saitenteile zunächst abdämpft (links) und dann frei mitschwingen lässt (rechts).
Im Mai 1872 reicht Theodore Steinway ein US-Patent für seine neueste Erfindung ein, das hier angesehen werden kann. Patente sind wertvolle Quellen, weil sich die Erfinder selbst zur Motivation, angenommer Funktionsweise und Wirkung ihrer Konstruktion äußern und oft technische Zeichnungen beifügen.
Links ist eine Detail-Abbildung der Patentzeichnung zu sehen. Sie zeigt den Diskant-Bereich eines Flügels, wo die Duplex-Skala hauptsächlich Anwendung findet. Die Klaviatur ist in der Skizze nicht abgebildet. Sie würde sich am unteren Rand befinden. Die Duplex-Skala besteht aus zwei Teilen, von denen der vordere auf dem Stimmstock und der hintere auf der Platte befestigt ist. Dort wurden die Saitenteile, die zuvor durch Filz komplett abgedämpft waren, in entsprechender Länge "freigelegt". Im Patenttext ist die Gestalt der neuen Auflagepunkte, die die Duplex-Abschnitte abgrenzen, mit den Begriffen "secondary agraffe" und "support" umschrieben.
a: Wirbel
b: Agraffe
c: vordere Begrenzung der Duplex-Skala
d: klingende Länge der Saite
e: hintere Begrenzung der Duplex-Skala
f: äußerer Resonanzbodenstegstift
g: Anhangstift
Die Brüche bezeichnen jeweils das Verhältnis der Duplex-Länge im Vergleich zur klingenden Länge. Es ergeben sich hierbei nur Oktaven (1/2 bezeichnet die erste Oktave, 1/64 liegt sogar sechs Oktaven über dem Grundton).
Der erste Flügel, der regulär mit der Duplex-Skala ausgestattet wurde, trug die Jubiläums-Seriennummer 25.000. Er stand Ende April 1872 in den Verkaufsräumen, also zwei Wochen vor Erteilung des Patents (5). Neben jenen Instrumenten, die die Duplex-Skala von Beginn an enthielten, scheinen zumindest manche ältere Exemplare nachgerüstet worden zu sein. Der Fall des Helmholtz-Flügels beweist, dass Steinway selbst diesen Umbau vornahm. Aufgrund der geringen Anzahl an Klavieren dieser Zeit in öffentlichen Sammlungen kann aber nicht genau bestimmt werden, wie oft so etwas geschah.
Allerdings war der nachträgliche Einbau praktischen Einschränkungen unterworfen. Da die Anhangstifte sehr nah am Rand der Platte lagen, konnten keine Duplex-Stege an einer sinnvollen Stelle auf der Platte angebracht werden. Es musste also auf die hintere Hälfte verzichtet werden. Helmholtz beschreibt genau dies, wenn er 1873 seiner Frau mitteilt:
"Vormittags erschien Mr. Theodor Steinway und wünschte unserem Flügel seine neueste Verbesserung der hohen Saiten [gemeint ist die Duplex-Skala] anzubringen, wenigstens so weit es noch bei einem älteren Instrument möglich sei. An dem Stücke der Saiten, welches auf der Seite der Tastatur nicht mehr klingt, zwischen dem Wirbel und dem Befestigungspunkt [Agraffe] hat er noch einen zweiten Steg angebracht, welcher Saitenstücke abgrenzt, die gewisse Obertöne der ganzen Saite geben. " (-> Objektbiographie)
Für den vorderen Teil war auf dem Stimmstock genug Platz. Eine treppenförmig gearbeitete Unterlage wurde mit einer Filzabdeckung versehen, auf der die Saiten aufliegen. Somit liegt nur der Bereich zwischen der Filzkante und der Agraffe frei und kann mit dem Hauptteil der Saite mitschwingen. Die Länge dieses Abschnitts ist genau bemessen und beträgt die Hälfte, ein Viertel, ein Achtel oder ein Sechzehntel. Dies entspricht der ersten, zweiten, dritten und vierten Oktave über dem Grundton. In dieser Hinsicht stimmt die Duplex-Skala des Helmholtz-Flügels genau mit dem Patent überein.
Im Brief nach dem Umbau (-> Objektbiographie) beschreibt Helmholtz eindeutig, dass er einen klanglichen Unterschied wahrnahm ("Die bisher etwas trockenen hohen Noten scheinen in der That voller und klingender geworden zu sein. [...] Die höchsten Töne unseres Flügels haben wirklich gewonnen; man kann den Unterschied noch jetzt hörbar machen, wenn man die frei gemachten Saitenteile wieder dämpft"). Heute fällt der Vergleich mit und ohne Dämpfung allerdings weniger deutlich aus. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass eine klare vordere Begrenzung der Duplex-Skala beim Helmholtz-Flügel aktuell fehlt. Diese Funktion erfüllt eine eher grob zugeschnittene Filzauflage statt einer schmalen (Metall-)Kante, wie sie bei modernen Flügeln verwendet wird. In der Vergangenheit war etwas ähnliches wahrscheinlich vorhanden, denn Helmholtz schreibt in dem Zitat oben von einem "zweiten Steg", den Theodore Steinway auf dem Stimmstock einfügte.
Die Duplex-Abschnitte kann man heute zumindest durch Anzupfen hörbar machen. Für die Töne c3 und c5 erfolgt hier ein Vergleich der regulär angeschlagenen Grundtöne (links) und der zugehörigen, gezupften Duplex-Töne (rechts):
Quellen
(1), Morris Smith, Fanny: A Noble Art. Three Lectures on the Evolution and Construction of the Piano, New York 1892, S. 58.
(2), Öberg, Fredrik/Askenfelt, Anders: Acoustical and perceptual influence of duplex stringing in grand pianos, in: Journal of the Acoustical Society of America, 131/1 (2), Melville, New York 2012, S. 856-871.
(3), näheres zur technischen Entwicklung von Klavieren bei Good, Edwin: Giraffes, Black Dragons, and Other Pianos. A Technological History from Cristofori to the Modern Concert Grand, Stanford 1982.
(4), Conklin Jr., Harold A.: Piano design factors - their influence on tone and acoustical performance, in: Anders Askenfelt (Hg.), Five lectures on the acoustics of the piano, Stockholm 1990, S. 19-38.
(5), Im Tagebucheintrag von William Steinway zum 27. April 1872 heißt es ausdrücklich: "Grandpiano No 25.000 down in the Store since Yesterday With Duplex scale".
Zitierweise: Katharina Preller, „"one of the most beautiful applications of science to art"? Der Helmholtz-Flügel von Steinway & Sons“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.