Eine Ouvertüre aus Vogelgeräuschen

Ausschnitt eines Tonbands von Oskar Sala, beschriftet mit „Hitchcock Titel“ (undatiert). Foto: Deutsches Museum, Archiv, CD 63126 CC BY-SA 4.0

In seinem Kommentar lenkt Truffaut die Aufmerksamkeit auf zwei besonders interessante Aspekte des Film-Soundtracks. Erstens hat The Birds keine konventionelle Filmmusik, im traditionellen Sinne einer Orchesterpartitur. Die Feststellung ist insofern überraschend, als Bernard Herrmann höchst wirksame und ikonische Musik für Hitchcocks Filme Psycho (1960) und Vertigo (1958) komponiert hatte, die The Birds vorangingen. Zweitens gibt Salas klassische Musikausbildung und die Herkunft des Mixturtrautoniums Truffaut guten Grund zu vermuten, die Vogelgeräusche funktionierten wie ein Musikstück, vor allem angesichts ihrer Struktur und Funktion im Film.

Die Gültigkeit von Truffauts Behauptung lässt sich direkt zu Beginn des Films nachweisen. Dieser eröffnet mit einer Montage, bestehend nur aus Vogelgeräuschen, anstatt Orchestermusik. Anhand der Analyse der Titelsequenz ließ sich zeigen, dass die formale Struktur dieser Eröffnungspassage verläuft wie die einer klassisch-konventionellen Hollywood-Filmouvertüre. Ungeachtet häufiger formaler Variationen je nach Genre, folgt eine klassische Hollywood-Filmouvertüre dem folgenden Grundschema:[22]

(1) Dramatic flourish („dramatischer Tusch“)
(manchmal Melodie, aber nicht oft) für den eigentlichen Haupttitel

(2) Wendung zu einem lyrischen Thema

(3) Rückkehr zu dem dramatic flourish, sobald die Titel enden

(4) Übergang – die Musik verklingt üblicherweise mit dem ersten Sound-Effekt oder sobald gesprochen wird.

Formale Gliederung des Spektrogramms der Titel-Sequenz. Die horizontale Axe repräsentiert die Zeit, die vertikale die Frequenz der Geräusche. Die Farben zeigen die relative Amplitude: Die Intensität der Geräusche steigt an von blau zu gelb, über orange, rot und schließlich dunkelrot. Foto: Deutsches Museum, J. Lee CC BY-SA 4.0

Die formale Struktur der Titelsequenz teilt viele Ähnlichkeiten mit der einer klassischen Hollywood-Filmouvertüre, abgesehen von ihrem unkonventionellen klanglichen Material – Vogelgeräusche anstatt musikalischer Themen.[23]

Spektrogramm der eröffnenden Geräusche (Einleitung) bis zum ersten Höhepunkt an Lautstärke und Intensität (dramatic flourish). Foto: Deutsches Museum, J. Lee CC BY-SA 4.0

Einleitung

Einzelne Möwenschreie heben sich deutlich von den gedämpften Rufen anderer Möwen im Hintergrund ab. Zeitgleich mit dem Sichtbarwerden dunkler Vogel-Silhouetten, ist das rastlose Flattern und Krächzen von Krähen zu hören.

 

Dramatic flourish

Die Lautstärke und Intensität der Vogelgeräusch-Montage steigt gegen das dramatic flourish hin an, als der Name „Alfred Hitchcock“ auf dem Bildschirm erscheint.

Spektrogramm des lyrischen Abschnitts. Foto: Deutsches Museum, J. Lee CC BY-SA 4.0

Lyrisches Thema

Dem intensiven folgt ein kontrastierender, „milderer“ Abschnitt, gekennzeichnet durch das Zwitschern zweier „Lovebirds“, übertragbar auf das romantisch-verbundene Paar im Film: Melanie und Mitch.

Spektrogramm des Durchführungs-Abschnitts. Foto: Deutsches Museum, J. Lee CC BY-SA 4.0

Durchführung

Auf den munteren Vogelgesang folgt eine Mischung aus Vogel-Gekreische, welches die Angriffssequenzen der Spatzen, Krähen und Möwen im Laufe des Films vorwegnimmt.

Gesamt-Spektrogramm der Titelsequenz. Die Rückkehr zum dramatic flourish zeichnet sich durch einen dunkelroten Farbton aus, was den Anstieg der Lautstärke in diesem Abschnitt anzeigt. Danach ebbt die Lautstärke ab, als der Übergang zur ersten Film-Szene beginnt. Foto: Deutsches Museum, J. Lee CC BY-SA 4.0

Rückkehr zum dramatic flourish

Die akustische Intensität steigert sich hin zu einem letzten Höhepunkt am Ende der Ouvertüre bevor das Bild plötzlich schwarz wird und zur ersten Szene des Films übergeht.


[22] David Neumeyer und James Buhler, „The Soundtrack. Music in the Evolving Soundtrack“, in: Sound and Music in Film and Visual Media. An Overview, Graeme Harper et al. (Hrsg.), New York u.a. 2009, S. 42–57, hier S. 48.

[23] Alle Spektrogramme wurden von der Kuratorin erstellt, unter Verwendung der Computer-Software Raven Lite: Interactive Sound Analysis Software (Version 2.0) des Bioacoustics Research Program, The Cornell Lab of Ornithology, Ithaca, NY 2014. http://www.birds.cornell.edu/raven.

Zitierweise: Julin Lee, „Subharmonische Fantasien: Das Vermächtnis von Oskar Sala und dem Mixturtrautonium“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.

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