Eine Ouvertüre aus Vogelgeräuschen
In seinem Kommentar lenkt Truffaut die Aufmerksamkeit auf zwei besonders interessante Aspekte des Film-Soundtracks. Erstens hat The Birds keine konventionelle Filmmusik, im traditionellen Sinne einer Orchesterpartitur. Die Feststellung ist insofern überraschend, als Bernard Herrmann höchst wirksame und ikonische Musik für Hitchcocks Filme Psycho (1960) und Vertigo (1958) komponiert hatte, die The Birds vorangingen. Zweitens gibt Salas klassische Musikausbildung und die Herkunft des Mixturtrautoniums Truffaut guten Grund zu vermuten, die Vogelgeräusche funktionierten wie ein Musikstück, vor allem angesichts ihrer Struktur und Funktion im Film.
Die Gültigkeit von Truffauts Behauptung lässt sich direkt zu Beginn des Films nachweisen. Dieser eröffnet mit einer Montage, bestehend nur aus Vogelgeräuschen, anstatt Orchestermusik. Anhand der Analyse der Titelsequenz ließ sich zeigen, dass die formale Struktur dieser Eröffnungspassage verläuft wie die einer klassisch-konventionellen Hollywood-Filmouvertüre. Ungeachtet häufiger formaler Variationen je nach Genre, folgt eine klassische Hollywood-Filmouvertüre dem folgenden Grundschema:[22]
(1) Dramatic flourish („dramatischer Tusch“)
(manchmal Melodie, aber nicht oft) für den eigentlichen Haupttitel
(2) Wendung zu einem lyrischen Thema
(3) Rückkehr zu dem dramatic flourish, sobald die Titel enden
(4) Übergang – die Musik verklingt üblicherweise mit dem ersten Sound-Effekt oder sobald gesprochen wird.
Die formale Struktur der Titelsequenz teilt viele Ähnlichkeiten mit der einer klassischen Hollywood-Filmouvertüre, abgesehen von ihrem unkonventionellen klanglichen Material – Vogelgeräusche anstatt musikalischer Themen.[23]
Einleitung
Einzelne Möwenschreie heben sich deutlich von den gedämpften Rufen anderer Möwen im Hintergrund ab. Zeitgleich mit dem Sichtbarwerden dunkler Vogel-Silhouetten, ist das rastlose Flattern und Krächzen von Krähen zu hören.
Dramatic flourish
Die Lautstärke und Intensität der Vogelgeräusch-Montage steigt gegen das dramatic flourish hin an, als der Name „Alfred Hitchcock“ auf dem Bildschirm erscheint.
Lyrisches Thema
Dem intensiven folgt ein kontrastierender, „milderer“ Abschnitt, gekennzeichnet durch das Zwitschern zweier „Lovebirds“, übertragbar auf das romantisch-verbundene Paar im Film: Melanie und Mitch.
Durchführung
Auf den munteren Vogelgesang folgt eine Mischung aus Vogel-Gekreische, welches die Angriffssequenzen der Spatzen, Krähen und Möwen im Laufe des Films vorwegnimmt.
Rückkehr zum dramatic flourish
Die akustische Intensität steigert sich hin zu einem letzten Höhepunkt am Ende der Ouvertüre bevor das Bild plötzlich schwarz wird und zur ersten Szene des Films übergeht.
[22] David Neumeyer und James Buhler, „The Soundtrack. Music in the Evolving Soundtrack“, in: Sound and Music in Film and Visual Media. An Overview, Graeme Harper et al. (Hrsg.), New York u.a. 2009, S. 42–57, hier S. 48.
[23] Alle Spektrogramme wurden von der Kuratorin erstellt, unter Verwendung der Computer-Software Raven Lite: Interactive Sound Analysis Software (Version 2.0) des Bioacoustics Research Program, The Cornell Lab of Ornithology, Ithaca, NY 2014. http://www.birds.cornell.edu/raven.
Zitierweise: Julin Lee, „Subharmonische Fantasien: Das Vermächtnis von Oskar Sala und dem Mixturtrautonium“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.