Vom organo di legno zur Truhenorgel
Sieht man von den Unstimmigkeiten der historischen Vorlage sowie einiger Unzulänglichkeiten in der handwerklichen Ausführung einmal ab, bildet Mertins Instrument eine eindrucksvolle Alternative zu jenen Orgeln, die seit den 1960er-Jahren üblicherweise für Aufführungen von L’Orfeo verwendet wurden. Meistens handelt es sich hierbei um sehr kleine und kompakte Orgeln mit elektrischem Gebläse. Sie werden in der Regel als „Continuo-Orgel“ oder „Kammerorgel“ bezeichnet, auch wenn diese Bezeichnungen Verwirrung stiften können, da sie durchaus auch für andere Arten von kleinen und mittelgroßen Orgeln verwendet werden. Eine treffendere Bezeichnung für das Instrument ist daher „Truhenorgel“. Sie wurde in den 1960er-Jahren speziell von Instrumentenbauern entwickelt, um Nachfragen der immer größer werdenden Alte-Musik-Bewegung nach einer mobilen Orgel zu bedienen. Sie sehen hier eine Abbildung einer solchen Truhenorgel. Sie wurde von der holländischen Firma Henk Klop hergestellt, die zu den bekanntesten Erbauern dieser Instrumente gehört.
Die Truhenorgel unterscheidet sich auf grundlegende Weise von den organi di legno. Zwar besteht auch bei der Truhenorgel das Prinzipalregister fast immer aus Holzpfeifen, im Gegensatz zu den organi di legno, bei denen die Pfeifen aller Register aus Holz gefertigt sind, kommen in den oberen Registern der Truhenorgel oft Metallpfeifen zum Einsatz. Und selbst die Holzpfeifen des Prinzipalregisters unterscheiden sich bei der Truhenorgel grundlegend von denen der organi di legno.
Ähnlich wie bei den organi di legno ist auch das Register des 8‘ Prinzipals üblicherweise aus Holz gefertigt. Die Struktur der Pfeife unterscheidet sich jedoch grundlegend. Im Gegensatz zum reichen, volltönenden Klang, den die offenen Pfeifen des Prinzipals der organi di legno erzeugen, sind die entsprechenden 8‘-Pfeifen bei den kompakten Truhenorgeln oben geschlossen. Ihre Länge reduziert sich somit auf die Hälfte. Diese Pfeifen werden als gedackt bezeichnet (das Wort hat seinen Ursprung im Mittelhochdeutschen und bedeutet „gedeckt“) und finden seit dem 16. Jahrhundert rege Verwendung im Orgelbau überall auf der Welt. Die Klangfarbe der gedackten Pfeifen ist gespenstisch, die wenigen Obertöne werden von den starken, durchdringenden Grundtönen überdeckt. Da die Truhenorgel als Klanggrund für Gesang und weitere Instrumente verwendet wird, wirkt sich ihr Timbre auf das gesamte Ensemble aus. Ihr hohler, tiefer Klang unterscheidet sich stark von den Singstimmen und den Streich- oder Blasinstrumenten, die sie normalerweise begleitet.
Die Truhenorgel wurde für eine Alte-Musik-Bewegung entwickelt, deren Repertoire sich zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren hauptsächlich auf die Musik Johann Sebastian Bachs konzentrierte. Vor diesem Hintergrund ergab es Sinn, das Prinzipalregister mit gedackten Pfeifen zu bestücken, da diese Klangcharakteristik von Bach für das Continuo-Spiel bevorzugt wurde. Mit gedackten Pfeifen näherten sich die Ensembles der Alte-Musik-Bewegung ihrem Ideal einer „authentischen“ Klangfarbe somit weitestmöglich an – zumindest was den Bereich der deutschen Barockmusik betraf.
Die Truhenorgel kam jedoch nicht nur bei Aufführungen des deutschen Barockrepertoires zum Einsatz, sondern wurde auch für die Interpretation von Musik unterschiedlicher Epochen verwendet – von der späten Renaissance bis hin zur Klassik. Dies umfasst auch frühe italienische Opern und – allgemeiner gesprochen – die italienische Musik des 16. und 17. Jahrhunderts. Dennoch wurden gedackte Pfeifen, die so prägend für den Klang der Truhenorgel sind, meist erst ab dem späten 18. Jahrhundert im italienischen Orgelbau verwendet. Der italienische Orgelbauer Antonio Barcotto warnte 1652 sogar davor, dass oben geschlossene Pfeifen Töne erzeugten, die „nicht natürlich, wie bei offenen Pfeifen, sondern künstlich“ seien.[3] Für eine künstlerische Bewegung mit dem Ziel, einem modernen Publikum historisch informierte Aufführungspraktiken und Timbres nahe zu bringen, stellt die Truhenorgel seltsamerweise einen blinden Fleck dar.
[3] „…se bene una canna coconada formerà voce bassa, come se fosse tutta aperta, è da sapere, che tal voce è artificiosa, e non naturale, come quella delle Canne aperte.“ Barcotto, 8. Kapitel. Für eine englische Übersetzung siehe Peter V. Picerno, „Antonio Barcotto’s Regola e breve raccordo: A Translation and Commentary“, in: Organ Yearbook 16 (1985), S. 47–70, vor allem S. 61.
Zitierweise: Leon Chisholm, „Klangholz und Holzklang: organo di legno“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.