Ein organo di legno für Paul Hindemith

Während der 1950er-Jahren, zur Zeit des Wiederaufbaus der Orgel in der Silbernen Kapelle, wuchs in Europa und den USA das Interesse daran, die Musik der Frühen Neuzeit historisch informiert aufzuführen. Der Komponist Paul Hindemith, der während der 1940er-Jahre das Collegium Musicum der Yale University leitete, war ein prominenter Befürworter dieser Bewegung. Im Rahmen eines 1944 von Hindemith unterrichteten Kurses über die Geschichte der Musiktheorie wurde Monteverdis L’Orfeo unter der Leitung des Komponisten an der Universität aufgeführt. Ein Jahrzehnt später, im Juni 1954, leitete Hindemith eine weitere Aufführung der Oper im Rahmen eines Musikfestivals im Wiener Konzerthaus.

Nur wenige der Instrumente, aus denen sich Monteverdis Orchester im frühen 17. Jahrhundert zusammengesetzt hatte, waren in den 1950er-Jahren noch bekannt. Die Besetzungsliste am Anfang der frühesten Druckausgaben des L’Orfeo (1609 und 1615) ermöglichte es Hindemith und seinen Kollegen (zu denen auch Nicolas Harnoncourt zählte), Monteverdis Orchester zu rekonstruieren. Mithilfe beträchtlicher Mittel gelang es ihnen schlussendlich, ein Orchester zusammenzustellen, das historische Instrumente aus Museen und Privatsammlungen und moderne Rekonstruktionen gleichermaßen umfasste.

Das auf diese Weise entstandene Ensemble war außergewöhnlich: Es umfasste ein italienisches Regal aus dem 16. Jahrhundert, eine rekonstruierte zweiseitig bezogene Harfe, Blockflöten, die von Dolmetsch gefertigt waren (einer englischen Familie, die in der Alte-Musik-Bewegung eine Vorreiterrolle innehatte), moderne Cembali, die von den Gebrüdern Ammer in Thüringen gebaut worden waren, eine Laute aus dem 18. Jahrhundert von Matthäus Stautinger, moderne Blechblasinstrumente, ein deutsches Positiv, das ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert stammte, sowie historische Gamben aus Paris, Brescia und Wien.

Josef Mertin, organo di legno, Universität für Musik und bildende Künste Wien. Foto: Deutsches Museum, L. Chisholm CC BY-SA 4.0


Auch ein von dem Musiker Josef Mertin neu angefertigtes organo di legno gehörte zum Orchester. In seinen einführenden Worten zu der Aufführung erläuterte Hindemith, dass die Orgel „eigens für dieses Ereignis von Professor Mertin gebaut wurde“ und zwar als „exakte Kopie einer Orgel aus dieser Zeit“. Er bezog sich damit auf das organo di legno in Innsbruck, mit dem Mertin sich ausgiebig beschäftigt hatte.

Tatsächlich unterscheidet sich Mertins organo di legno jedoch grundlegend von der Innsbrucker Orgel. Hinzu kommt, dass das historische Instrument – wie hier beschrieben wird – während einer Restaurierung zwischen den Jahren 1950 und 1952 stark verändert wurde. Das Instrument, mit dem Mertin sich so eingehend beschäftigt hatte, ähnelte also nur noch vage jener Orgel, die im 17. Jahrhundert gebaut worden war. Mertins Orgel ist heute in der Universität für Musik und darstellende Künste Wien untergebracht und wird weiterhin gespielt.

Das (hölzerne) 8‘-Prinzipal, das Grundregister von Mertins Orgel, ist im Klangbeispiel zu hören.

Klangbeispiel des hölzernen 8’-Prinzipals, organo di legno von Josef Mertin, Wien. Aufnahme: Deutsches Museum, L. Chisholm CC BY-SA 4.0

Zitierweise: Leon Chisholm, „Klangholz und Holzklang: organo di legno“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.

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