Wiederentdeckte Klangfarben

Walter Chinaglia in seiner provisorischen Werkstatt im Deutschen Museum. Foto: Deutsches Museum, K. Rainer, MatMu-32 CC BY-SA 4.0


Eine der Herausforderungen, denen sich heutige Orgelbauer bei dem Versuch stellen müssen, um den Klang der hölzernen Prinzipalpfeifen italienischer Orgeln nachzuahmen, besteht darin, sich von den gängigen Klangvorstellungen zu lösen. Obwohl das Timbre der Holzpfeifen in etwa dem der Metallpfeifen entspricht, wird Holz eng mit dem Klang der gedackten und der Offenflöten assoziiert. Um die praktischen Aspekte besser verstehen zu können, die mit der Rekonstruktion des historischen Timbres der organi di legno einhergehen, haben wir mit dem italienischen Orgelbauer Walter Chinaglia zusammengearbeitet. Zu Beginn unserer Kooperation hatte Chinaglia gerade zwei organi di legno mit jeweils einer Pfeifenreihe fertiggestellt und zuvor bereits mit der Stimmhaftigkeit offener Prinzipalpfeifen aus Holz experimentiert. Während unserer Zusammenarbeit begann Chinaglia mit der Arbeit an einem großen organo di legno, das eng an das historische Vorbild der Innsbrucker Orgel angelehnt ist.[4]

Walter Chinaglias Werkzeuge. Foto: Deutsches Museum, K. Rainer, MatMu-8 CC BY-SA 4.0


Der Klang der hölzernen Prinzipalpfeifen der organi di legno unterscheidet sich deutlich von unseren Vorstellungen eines natürlichen Klangideals der Holzpfeifen. Chinaglia betont deshalb, wie wichtig es ist, sich vom stillschweigenden Wissen der modernen Orgelbautradition, wie es normalerweise vom Meister an den Schüler weitergegeben wird, zu distanzieren. Klang und Material sind in der allgemeinen Vorstellung so eng miteinander verbunden, dass Orgelbauer*innen hölzerne Orgelpfeifen – sogar hölzerne Prinzipalpfeifen – immer wieder so stimmen, dass die ganzzahligen Obertöne gedämpft werden. Chinaglia hingegen zieht es beim Bau hölzerner Prinzipalpfeifen vor, sich der Pfeife so zu nähern, dass das Material selbst das ganze klangliche Potential der Pfeife freisetzen kann. Dies ist der Grund dafür, dass sich der Klang von Chinaglias organi di legno deutlich von denen vieler anderer moderner Orgeln mit historischem Vorbild unterscheidet. Insbesondere seine hölzernen Prinzipalpfeifen ähneln vom Klang her eher italienischen Prinzipalpfeifen aus Metall als diejenigen anderer moderner Orgelbauer.

 

[4] Walter Chinaglia, Towards the Rebuilding of an Italian Renaissance-Style Wooden Organ (DM Studies 5), München 2020, inkl. Vorwort „Musical Instruments as Material Culture“ von Rebecca Wolf. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:210-dm-studies5-4

Zitierweise: Leon Chisholm, „Klangholz und Holzklang: organo di legno“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.

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