Warum Holz?
In der Frühen Neuzeit wurden organi di legno in Italien wegen ihrer charakteristischen Klangfarbe geschätzt. Zwar wirkt sich das Material einer Orgelpfeife in der Theorie nicht auf ihren Klang aus – ob es sich dabei nun um Holz, Metall, Glas, Plastik, Papier oder Stein handelt. In Wirklichkeit haben die jeweiligen Materialeigenschaften jedoch einen sehr starken Einfluss sowohl auf die Konstruktion, als auch auf die Art und Weise, wie die einzelnen Pfeifen gestimmt werden. So sind Metallpfeifen aufgrund ihres Gussverfahrens zylindrisch, Holzpfeifen hingegen in der Regel rechteckig, da sie aus vier orthogonal miteinander verleimten Holzstücken bestehen. Aber selbst dieser große Unterschied in der Form wirkt sich bei der Tonerzeugung fast nicht auf die Klangfarbe der Pfeife aus. Was jedoch entscheidenden Einfluss auf das Timbre hat, sind kleine Unstimmigkeiten in der Beschaffenheit der Pfeifenmündung. Blech lässt sich aufgrund seiner Materialeigenschaften wesentlich leichter und beständiger in die Form eines scharfkantigen Labiums bringen als dies bei Holz der Fall wäre. Das Labium bezeichnet den obersten Teil der Pfeifenmündung, der die Luftsäule schneidet, um so eine Schallwelle zu erzeugen. Selbst das scharfkantigste Holzlabium als Ergebnis einer meisterhaften Holzverarbeitung wäre immer geringfügig stumpfer als ein Labium aus Metall. Dieser minimale Unterschied wirkt sich auf das Obertonspektrum der Pfeife aus und beeinflusst somit ihre Klangfarbe: Ein Metalllabium erzeugt ein volleres Obertonspektrum als eines aus Holz.
Seit den 1450er-Jahren wurde die charakteristische Tonqualität der hölzernen Orgelpfeifen immer wieder als dolce – süß, sanft, lenkbar – und soave – süß, sanft, weich – beschrieben. War der lautere, silbrige Klang von Metallpfeifen perfekt dafür geeignet, eine große Kirche auszufüllen, konnte er in kleineren Räumen (beispielsweise in Akademien, Theatern, Kapellen oder Wohnungen) schnell überwältigend sein; besonders dann, wenn er gemeinsam mit Gesang oder leisen Instrumenten erklingen sollte. Der sanftere Klang der organi di legno war für diese intimeren Umgebungen ideal geeignet, da Sänger*innen und Instrumentalist*innen begleitet werden konnten, ohne sie zu übertönen. Tatsächlich beschreibt der Autor der anonym publizierten Abhandlung Il Corago aus der Zeit um 1630 (einer Schrift, die sich mit aufführungstechnischen Aspekten von Operninszenierungen beschäftigt) das organo di legno als jenes Instrument, welches am besten zur Begleitung von Sänger*innen geeignet sei. Dem Autor zufolge dienten die Holzpfeifen als „Prüfstein“ für guten Gesang.
Gegenüber Orgeln mit Metallpfeifen wiesen organi di legno auch praktische Vorteile auf. Hölzerne Pfeifen sind stabil, robust und leicht zu transportieren, während Metallpfeifen – die oft einen hohen Bleianteil aufweisen – anfällig für schädliche Knicke oder Dellen sind. So schrieb der Komponist Nicola Vicentino (1511–ca. 1576) über das von ihm entwickelte arciorgano (eine Art mikrotonales organo di legno), dass dessen Holzpfeifen „ihre Stimmung für eine lange Zeit behalten“. Und tatsächlich konnte das arciorgano mit seinen 126 Pfeifen, wenn es einmal auseinandergenommen war, auf einem einzelnen Maultier transportiert und binnen weniger Stunden wieder zusammengebaut werden. (Siehe zu Vicentinos Instrumenten auch https://www.projektstudio31.com.)
Zitierweise: Leon Chisholm, „Klangholz und Holzklang: organo di legno“, in: Materialität der Musikinstrumente. Eine virtuelle Ausstellung.